Care Leaver sind junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in einer öffentlichen Erziehung (z.B. in sozialpädagogischen Wohngruppen oder Pflegefamilien) verbracht haben und sich im Übergang in ein eigenständiges Leben befinden. Im Gegensatz zu den meisten jungen Menschen, die in Familien aufwachsen, erfolgt dieser Übergang – also der Auszug – üblicherweise mit dem 18. Geburtstag. Eine Verlängerung der stationären Kinder- und Jugendhilfe bis zum 21. Lebensjahr (Hilfen für junge Erwachsene) ist nur auf Ansuchen der jungen Menschen und mit besonderer Begründung eine Option (z.B. dass die Ausbildung noch abgeschlossen werden muss). Bei jungen Menschen mit bereits deutlich erhöhten Belastungen sowie weniger sozialen und materiellen Ressourcen wird in der gängigen Hilfepraxis aufgrund rechtlicher Bedingungen erwartet, mit Eintritt der Volljährigkeit selbständig zu leben.
Nachfolgend zu ihrem Interview mit Tirol Heute beantwortet Christina Lienhart auch dem Studiengang einige Fragen zu dieser Thematik (Forschungsperspektive):
Weshalb wurden Sie zum Interview geladen?Was genau macht Sie zur Expertin für die Situation von Care Leavern?
Ich beschäftige mich seit ca. 20 Jahren mit Forschung zu Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen und im Speziellen zu Fremdunterbringung und Übergängen aus Fremdunterbringung, also sowohl mit der Thematik rund um die Rückkehr von Kindern und Jugendlichen in ihre Familien als auch jener der Care Leaver.
Warum spielt der 18. Geburtstag in der Thematik Care Leaver eine entscheidende Rolle?
Rechtlich gesehen endet die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe mit Beginn der Volljährigkeit. Es gibt zwar Anschlusshilfen für junge Erwachsene, z.B wenn diese noch mitten im Ausbildungsverhältnis stehen, wobei dann ein Ausbildungs- oder Studienwechsel nicht möglich ist. Diese Unterstützung ist jedoch auf ein Jahr beschränkt und kann maximal bis zum 21. Lebensjahr gewährt werden. Junge Erwachsene müssen diese Anschlusshilfe selbst beantragen, die Entscheidung darüber, ob diese gewährt werden kann, liegt aber im Ermessen des Kinder- und Jugendhilfe-Trägers. Ein Rechtsanspruch auf diese Hilfe besteht nicht.
Man erwartet von 18-jährigen Menschen, die auf Basis ihrer Biografie schon wahnsinnig viel nachzuholen haben, innerhalb von kurzer Zeit, alle Belange des Lebens selbstständig zu bewältigen. Vorhandene Forschung zeigt auf, dass dieser Bruch, dieser Stress junge Erwachsene vor irrsinnige Herausforderungen stellt. Aus der Kinder- und Jugendhilfe-Statistik geht zumindest hervor, dass in Tirol mehr Anschlusshilfen gewährt werden als im Bundesschnitt. Insgesamt fehlt es aber an systematischer Forschung zu Care Leavern ebenso wie zu Kinder- und Jugendhilfe in Österreich und damit auch darüber, wie es jungen Menschen nach diesen Übergängen geht.
Was sind spezielle Herausforderungen?
Von jungen Erwachsenen wird ab dem 18. Lebensjahr erwartet, in kurzer Zeitphase alle Belange des Lebens ohne weitere Unterstützung zu meistern: Neben finanziellen Sorgen, gilt es auch existenzielle Dinge ganz alleine zu bewältigen: Ob sich das Mieten einer Wohnung insbesondere vor dem Hintergrund der immens hohen Mietpreise in Innsbruck bzw. Tirol überhaupt ausgeht, wer die Kaution bezahlt, wie man eine Versicherung abschließt oder ob man sich irgendwohin wenden kann, wenn Unterstützung benötigt wird, sollten keine Sorgen sein, bei denen junge Erwachsene auf sich alleine gestellt sind.
Internationale Studien belegen, dass die die Gefahr besteht, dass die im Zuge der Betreuung erreichten Erfolge damit nicht nachhaltig gesichert sind. Es besteht ein erhöhtes Risiko, dass junge Menschen nach Beendigung von Fremdunterbringung in prekären Lebensverhältnissen leben und leicht in die nächsten Sozialsysteme, Wohnungslosenhilfe, Abhängigkeitserkrankungen oder Arbeitslosigkeit rutschen können. Dieser gesetzlich legitimierte „break“ bedingt Benachteiligung und Exklusionsgefahr.
Welche Bedeutung spielt die Familie der jungen Erwachsenen?
Mit Beginn der Volljährigkeit bekommt die eigene Familie (wieder) höhere Bedeutung – es gilt deshalb, diese Beziehungen bereits während der Fremdbetreuung weiterzuentwickeln, damit sie anschließend als Ressource zur Verfügung stehen. Aber natürlich gibt es auch welche, die keinen Kontakt mit ihren Familien mehr haben und die Familie keine Ressource ist oder eine bewusste Abgrenzung erfolgt.
Einige Eltern betonen, dass sie froh gewesen wären, wenn ihr Kind noch ein, zwei Jahre länger in der Einrichtung bleiben hätte können, um eben die positive Entwicklung ihrer Kinder zu verfestigen. Bei manchen Jugendlichen zeigt sich, dass dieser Anspruch mit 18 alleine leben zu müssen, solche Angst machen kann, dass sie sich für eine Rückkehr nach Hause entscheiden. Anderen deuten dann die Rückkehr nach Hause wiederum als eigenes Versagen – als hätten sie die Verselbständigung nicht geschafft. Das geht mit einem Gefühl der Beschämung einher.
Welche Lösungsansätze bzw. Veränderungsnotwendigkeiten gibt es?
Bundesweit unterschiedliche und punktuelle Lösungen rund um die Care Leaver-Thematik sind Ausdruck dessen, dass Kinder- und Jugendhilfe Ländersache ist. Ein Rechtsanspruch bzw. die Erhöhung des Alters bei der Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe wird von Fachleuten weiterhin gefordert. Ein großes Problem ist, dass dies nicht von einem Bundesland alleine beschlossen werden kann, sondern ein Einstimmigkeitsprinzip von allen Ländern und Bund nötig ist.
In Tirol gibt es ein Budget, das den Einrichtungen für die Nachbetreuung von Care Leavern in Form von Fachleistungsstunden bei Bedarf zur Verfügung steht – mit dem Fokus der „Bezie-hungskontinuität“. Allerdings müssen die jungen Erwachsenen selbstständig für die Nachbetreuung ansuchen.
Welche Relevanz hat diese Thematik für unseren Studiengang der Sozialen Arbeit?
Die Thematik der Care Leaver hat hochgradige Relevanz für die Soziale Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien. Dementsprechend wird diese im Zuge von Lehrveranstaltungen mit unseren Studierenden thematisiert und diskutiert.
Christina Lienhart ist Senior Lecturer am Department für Soziale Arbeit am MCI | Die Unternehmerische Hochschule®.
Beruflicher Werdegang:
2021 - heuteSenior Lecturer - MCI/Department Soziale Arbeit
2002 - 2021Wissenschaftliche Mitarbeiterin - Sozialwissenschaftliche Praxisforschung, Organisations- und Umfeldanalysen, wissenschaftliche (Beg)Leitung von Entwicklungsprojekten, wissenschaftliche Beratung, Tagungskonzeption und -organisation, Gremienarbeit - Abteilung Forschung & Entwicklung (vormals Sozialpädagogisches Institut/SPI)/Fachbereich Pädagogik/SOS-Kinderdorf
1999 - 2002Sozialarbeiterin - Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck/Abt. IV Kinder- und Jugendpsychiatrie
1995 - 1999Sozialarbeiterin - Verein Kinder- und Jugendzentrum St. Paulus/Innsbruck
Ausbildung:
2017 - 2023Promotionsstudium Erziehungswissenschaft - Universität Siegen
1998 - 2002Pädagogik/Fächerbündel - Universität Innsbruck/Institut für Erziehungswissenschaften (Mag.a)
1995 - 1998Psychotherapeutisches Propädeutikum - Universität Innsbruck/Institut für zwischenmenschliche Kommunikation
1992 - 1995Soziale Arbeit - Akademie für Sozialarbeit Innsbruck (DSA)
Christina Lienhart is Senior Lecturer for the study programs Social Work (Bachelor) and Social Work, Social Policy & Management (Master) at MCI. As a social worker and educational scientist, she is an expert in child and youth welfare research. © MCI
Social Work | Bachelor
Social Work, Social Policy & Management | Master
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